Corona: Kartellrecht in der Corona-Krise

In Krisenzeiten verschieben sich Prioritäten. Vieles was bis gestern als gesetzt galt, steht heute zur Disposition. Die durch das Covid-19 ausgelöste Krise ist ein Musterbeispiel hierfür. Der Staat schränkt im großen Stil grundgesetzliche verbriefte Freiheitsrechte ein, um das kollidierende Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen.

Diese weitreichende Verschiebung der Parameter darf aber nicht zu dem Trugschluss führen, dass Verhaltensweisen, die gestern noch verboten waren, aufgrund der aktuellen Ausnahmesituation erlaubt sind. Auch das Kartellrecht gilt weiterhin in demselben Maße wie bisher. Gleichwohl können nunmehr - quasi Corona-bedingt - gesetzlich vorgesehene oder in der Entscheidungspraxis anerkannte Ausnahmen stärker nutzbar sein. Allerdings hält das Kartellrecht auch Instrumente vor, krisenbedingte Gewinne zu begrenzen. Auch die Fusionskontrolle bleibt inhaltlich unverändert, wenngleich die Kartellbehörden mit verschiedenen Maßnahmen versuchen, den Eingang neuer Anmeldungen zu verlangsamen. Flankierend gibt es gesetzgeberische Überlegungen, Unternehmen in Schlüsselindustrien vor Übernahmen aus dem Ausland zu schützen.

Kartellverbot

Dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach Art. 101 AEUV/§ 1 GWB ist eine Güterabwägung zwischen Wettbewerbsschutz und Gesundheitsschutz grundsätzlich fremd. Vor etlichen Jahren und auch nur in wenigen Einzelfällen duldete das Bundeskartellamt Abreden zwischen Wettbewerbern, mit denen gesundheitspolitische Zielsetzungen verfolgt wurden (insb. ein Werbeverbot für Zigaretten). Spielräume ergeben sich jedoch durch kartellfreie Kooperationen oder die Inanspruchnahme des allgemeinen Freistellungstatbestandes nach Art. 101 Abs. 3 AEUV/§ 2 Abs. 1 GWB oder der speziellen Freistellungsregelung für kleine und mittlere Unternehmen nach § 3 GWB. Erste Verlautbarungen der Kartellbehörden lassen erkennen, dass diese während der Krise teilweise einen etwas großzügigen Maßstab anwenden wollen, jedenfalls verstärkt für informelle Diskussionen zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung geht.

Sicherstellung der Versorgung

So hat das Netzwerk der nationalen europäischen Kartellbehörden, das European Competition Network (ECN) verlautbart, dass sie aufgrund und für die Dauer der Corona-Krise gegen bestimmte abgestimmte Verhaltensweisen nicht vorgehen werden, sofern sie der Versorgung der Bevölkerung dienen. Dies betrifft insbesondere die Zusammenarbeit von Unternehmen in Bezug auf Transport und Lagerhaltung sowie die wechselseitige Belieferung zwischen Wettbewerbern zur kurzfristigen und vorübergehenden Beseitigung von Lieferengpässen (sog. Kollegenlieferungen). Ein in diesem Zusammenhang erfolgender Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen ist ebenfalls zulässig, soweit dieser zur Erreichung der Ziele der Kooperation zwingend erforderlich ist. Aktuell relevant sein dürfte dies in erster Linie für Hersteller und Vertreiber von Medizin-und Hygieneartikeln sowie Arznei- und Nahrungsmitteln.

Allerdings dürften die gemeinsamen Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung nicht über das hinausgehen, was für diesen Zweck erforderlich ist. Insbesondere Preis- und Konditionenabsprachen sowie die Aufteilung von Märkten und Kunden bleiben untersagt. Die Kartellbehörden machen betonen auch, dass sie, sollte die jetzige Situation für derartige Absprachen ausgenutzt werden, hierauf entsprechend reagieren werden. Die Kartellbehörden Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der USA haben bereits angekündigt, bestimmte Märkte nach der Krise besonders unter die Lupe zu nehmen. Gleichwohl betont insbesondere die Europäische Kommission, dass sie jederzeit für informelle Gespräche über Krisenspezifische Kooperationen zur Verfügung steht.

Strukturkrisenkartelle

In Krisenzeiten drängt sich das Schlagwort „Strukturkrisenkartell“ auf. Strukturkrisenkartelle bestehen im Grundsatz darin, dass im Wettbewerb stehende Unternehmen sich abstimmen, koordiniert ihre (Produktions-)Kapazitäten zu reduzieren. In der aktuellen Situation dürfte  dieses Instrument allerdings (noch) nicht zulässig sein.

§ 6 GWB a.F., der mit der 7. GWB-Novelle im Jahr 2005 ersatzlos aufgehoben wurde, setzte hierfür einen auf nachhaltiger Änderung der Nachfrage beruhenden Preisrückgang voraus. Auch nach der nunmehr geltenden allgemeinen Freistellungsnorm des Art. 101 Abs. 3 AEUV/§ 2 Abs. 1 GWB darf der Nachfragerückgang nicht bloß konjunkturell, sondern muss strukturell bedingt sein, wie die EU-Kommission im Zusammenhang mit der letzten Finanzkrise äußerte. Diese Voraussetzung dürfte nach jetzigem Stand (jedenfalls noch) nicht erfüllt sein. Denn bisher ist noch nicht abzusehen, dass die Pandemie zu einer derartigen nachhaltigen Änderung der Nachfrage führt. Zudem müssen die Verbraucher von einem Strukturkrisenkartell durch eine „gesündere Angebotsstruktur“ profitieren. Auch diese Voraussetzung ist offensichtlich nicht erfüllt. Abgesehen davon, dass eine Reduzierung der Kapazitäten dies prima facie nicht ohne weiteres gewährleistet, widerspräche eine solche Vorgehensweise der derzeitigen wirtschaftspolitischen Zielsetzung der Bundesregierung, die Wirtschaft in die Lage zu versetzen, nach dem Ende der Pandemie rasch wieder „hochzufahren“, wie durch die massiven Unterstützungsmaßnahmen, nicht zuletzt durch die erweiterten Möglichkeiten für Kurzarbeitergeld, deutlich wird.

Mittelstandskooperationen

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) haben weitergehende Möglichkeiten im Rahmen sog. Mittelstandskartelle nach § 3 GWB, sofern diese den zwischenstaatlichen Handel nicht spürbar beeinträchtigen. Profitieren können also in erster regional begrenzte Kooperationen. Auch wenn dieser Freistellungstatbestand nicht spezifisch auf Situationen wie die aktuelle Corona-Krise ausgerichtet ist, können KMU diesen dann für sich in Anspruch nehmen, wenn sie in der derzeitigen Situation wegen ihrer im Vergleich zu Großunternehmen ihres Wirtschaftszweigs größenbedingte Wettbewerbsnachteile haben sollten. Die Freistellung setzt des Weiteren voraus, dass die kooperierenden Unternehmen wirtschaftliche Vorgänge rationalisieren. Dies erfasst u. a. die Zusammenarbeit bei Produktion, Lagerhaltung oder Transport. Allerdings muss die Rationalisierung dazu dienen, die Wettbewerbsfähigkeit der KMU gegenüber größeren Wettbewerbern zu verbessern. Dies lässt sich nur im Einzelfall beurteilen. Da die Corona-Krise KMU wegen ihrer geringeren finanziellen Spielräume stärker trifft als konkurrierende Großunternehmen, könnten die Voraussetzungen derzeit tendenziell eher erfüllt sein.

Missbrauchsverbot

Die Regelungen über die Missbrauchskontrolle (Art. 102 AEUV/§§ 18 ff. GWB) bieten gerade in der aktuellen Krise vor allem kleineren und mittleren Unternehmen, die von großen  oder gar marktbeherrschenden Unternehmen abhängig sind, einen Schutz vor Ausbeutung und Diskriminierung. Für die marktstarken bzw. marktbeherrschenden Unternehmen bedeutet dies, nicht nur bei der Preisgestaltung, sondern auch bei einseitigen Maßnahmen (Lieferstopps, Kündigung von Verträgen) ausgewogen zu agieren.

Preismissbrauch

Es drängt sich auf, dass marktstarke bzw. marktbeherrschende Unternehmen in der Corona-Krise versuchen könnten, gegenüber Lieferanten und Abnehmern bessere Preise durchzusetzen. An Gütern, die sonst problemlos verfügbar waren, besteht plötzlich ein Mangel. Jeder kennt den Anblick des leeren Nudel-Regals im Supermarkt. Andere Produkte, wie z.B. Atemschutzmasken, werden seit Beginn der Corona-Krise in viel größerem Umfang nachgefragt, als in normalen Zeiten. Da durch vorübergehende Fabrikschließungen, Ausfall von Arbeitskräften und Exportstopps zugleich (internationale) Lieferketten abreißen, kommt es bei Vorprodukten zu Nachschubproblemen. Hersteller können folglich zumindest kurzfristig nicht die gesamte Nachfrage bedienen. So steigt bspw. der Preissetzungsspielraum für Hersteller und Händler von Atemschutzmasken kurzfristig praktisch ins Unendliche. Dementsprechend haben Anbieter von Atemschutzmasken die Preise um bis zu 3.000 % erhöht.

Das Ausnutzen mangelbedingter Zwangslagen durch (massive) Preiserhöhungen findet grundsätzlich nur seine zivil- und strafrechtlichen Grenzen im Tatbestand des Wuchers, also einem auffälligen Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (§ 138 BGB, § 291 StGB). Bei einer Preiserhöhung von 3.000 % liegt dies prima facie durchaus nahe.

Engere Grenzen ergeben sich hingegen für marktbeherrschende und marktstarke Unternehmen aus § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 GWB. Diese dürfen keine missbräuchlich überhöhten Preise verlangen. Nicht jede Preiserhöhung ist damit auch in Krisenzeiten unzulässig. Gleichwohl findet eine Preiserhöhung dort seine Grenze, wo der Preis von einem nicht marktbeherrschenden Unternehmen nicht mehr durchgesetzt werden könnte. Dies lässt sich allerdings derzeit schwer beurteilen, da es angesichts der Einzigartigkeit der Corona-Krise in der jüngeren Vergangenheit an Vergleichsmaßstäben fehlt. Allerdings kann das Maß der Überschreitung des Wettbewerbspreises auch anhand der Differenz zwischen Kosten und Erlös ermittelt werden. Sofern die Vorprodukte krisenbedingt um einen Betrag x teurer geworden sind, rechtfertigt dies einen entsprechende Erhöhung des Produktpreises,   sofern das marktbeherrschende Unternehmen keine weiteren sachlichen Rechtsfertigungsgründe vortragen kann. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass wegen der Unsicherheiten bei der Bezifferung des Vergleichspreises auch stärkere Preisanstiege im Ergebnis einer Preismissbrauchsprüfung standhalten könnten. Ohnehin ist aufgrund der aufwändigen Ermittlungsarbeit mit entsprechenden kartellbehördlichen Verfahren erst im Nachhinein zu rechnen. Die Abnehmer werden also im Zweifelsfall zunächst einmal  höhere Einkaufspreise hinnehmen müssen.

Diskriminierung

Die aktuelle Krisensituation, deren Ende derzeit noch nicht abzusehen ist, wird trotz der bereits gesetzlich in die Wege geleiteten staatlichen Unterstützung vermutlich eine Vielzahl von Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten oder gar eine wirtschaftliche Schieflage bringen. Hierdurch bedingte Zahlungsausfälle könnten Lieferanten zur Kündigung von Lieferbeziehungen veranlassen. Die Kündigung vertraglicher Lieferbeziehungen ist aber auch produktionsbedingt sowohl seitens der Anbieter als auch der Abnehmer zu erwarten. Denkbar sind auch mangelbedingte Lieferstopps oder die (vorübergehende Einstellung von Mietzahlungen für Gewerbeflächen).

Marktbeherrschende und marktstarke Unternehmen, von denen Anbieter oder Lieferanten abhängig sind, müssen insbesondere in derartigen Konstellationen das Diskriminierungsverbot des § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB beachten. Dies bedeutet, dass die Kündigung langfristig langfristiger Vertragsverhältnisse verhältnismäßig sein, also beispielsweise zunächst einmal nur ein vorübergehender Lieferstopp erwogen werden muss. Auch müssen Abnehmer oder Lieferanten, die als gleichartig anzusehen sind, im Wesentlichen einheitlich behandelt werden. Eine unterschiedliche Behandlung bedarf also einer besonderen Rechtfertigung. Schließlich können liefer- oder produktionsbedingte Mangellagen zu verpflichten, alle Abnehmer anteilig zu beliefern (sog. Repartierungspflicht). Selbst bisher nicht belieferte Unternehmen haben hiernach u.U. einen Anspruch auf Belieferung.

Fusionskontrolle

Dass die Corona-Krise Auswirkungen auf die Genehmigung von Zusammenschlüssen hat, ist bisher nicht erkennbar. Im Hinblick auf personelle Kapazitäten und das im Fusionskontrollverfahren geltenden Fristenregime bitten allerdings sowohl die Europäische Kommission als auch das Bundeskartellamt Unternehmen darum, erforderliche Fusionskontrollanmeldungen soweit möglich bis auf weiteres zu verschieben. Die Europäische Kommission hat darüber hinaus die Möglichkeit, durch eine zeitliche Ausdehnung der Vorgespräche vor Einreichung einer Fusionskontrollanmeldung die Zahl der Anmeldungen stärker als bisher über die kommenden Monate zu strecken.

In den Focus der industriepolitischen Diskussion rückt aktuell erneut die Frage, in welchem Maße und insbesondere in welchen Branchen Übernahmen deutscher Unternehmen aus dem Ausland verhindert oder jedenfalls über die Fusionskontrolle hinaus politisch geprüft werden könnten. Dies war zuletzt krisenunabhängig im Zusammenhang mit dem Erwerb der Mehrheitsbeteiligung am Maschinenhersteller KUKA durch den chinesischen Midea-Konzern der Fall. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat nun angekündigt, die Mitgliedstaaten durch neue Leitlinien dabei zu unterstützen, den Verkauf solcher Unternehmen ins außereuropäische Ausland zu überwachen, die von strategischer Bedeutung sind. Hierbei geht es insbesondere um Unternehmen der Gesundheitsbranche und der strategischen Infrastruktur.

In Deutschland besteht in §§ 55 ff. Außenwirtschaftsverordnung bereits eine gesetzliche Eingriffsgrundlage, um Unternehmenszusammenschlüsse zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu untersagen. Die dortige Aufzählung der einer Prüfung unterliegenden Sektoren (insb. kritische Infrastruktur, bspw. Einrichtungen und Anlagen im Gesundheitsbereich, Telekommunikation, bestimmte Arten von Software und Presse) ist nicht abschließend, sodass in der Corona-Krise oder auch als deren Folge auch der Erwerb von Unternehmen in anderen Sektoren, insb. in den Sektoren Pharma und Arzneimitteln, Medizintechnik und Gesundheitsprodukten untersagt werden könnte. Daneben hat das Bundeswirtschaftsministerium angekündigt, sich zur Verhinderung eines Ausverkaufs über einen Wirtschaftsstabilisierungsfonds selbst an Unternehmen zu beteiligen..

Schlusswort

Selbst wenn auch die Kartellbehörden durch das Corona-Virus betroffen sind – deren Mitarbeiter müssen ebenfalls geschützt werden – gehen die Kartellbehörden weitgehend unbehindert ihrer Arbeit nach. Corona-bedingt haben sich die kartellrechtlichen Spielräume für Unternehmen nur zum Teil vergrößert. Die Unternehmen sollten deshalb - wie generell - im Einzelfall ausloten, inwieweit sie diese für sich Spielräume nutzen können.

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